Kurzpredigt über Johannes 5, 1-9: Die Heilung am Teich Betesda
19. Sonntag nach Trinitatis, 27.10.2019Gethsemanekloster Riechenberg
Johannes 5, 1- 9:
1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.
2 Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen;
3 in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte.
Sie warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte.
4 Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt.
5 Es war aber dort ein Mensch, der lag achtunddreißig Jahre krank.
6 Als Jesus den liegen sah und vernahm, dass er schon so lange gelegen hatte, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein.
8 Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!
9 Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Zwei Personen stehen in der Geschichte im Mittelpunkt: ein kranker Mann und Jesus.
Der Mann war schon seit 38 Jahren gelähmt, und zwar am ganzen Körper. Er konnte nur liegen und sich so gut wie gar nicht bewegen. Er hatte wahrscheinlich starkes Rheuma oder Gicht, und die Aussicht auf Heilung war gering.
Aber er hatte eine Hoffnung, und die lag in einer Heilquelle, dem „Teich Betesda“ in Jerusalem. Von Zeit zu Zeit bewegte sich das Wasser dieses Teiches auf geheimnisvolle Weise, und dann musste man hineinsteigen, um gesund zu werden. Das ging allerdings nur einzeln. Wer jeweils als erster in das bewegte Wasser gelangte, hatte die beste Heilungschance. Die Kranken mussten sich also gedulden und in der Regel lange warten. Deshalb waren fünf Hallen um diesen Teich herum gebaut worden, in denen lagen die Patienten und hofften auf den heilenden Strudel. Auch der Mann, der hier im Mittelpunkt steht, tat das.
Aber für ihn war es so gut wie aussichtslos, denn er kam gar nicht ohne fremde Hilfe in dieses Wasser hinein. Wenn er sich mühsam dorthin gequält hatte, war bereits ein anderer vor ihm dort, und seine Chance war wieder vorbei. Er war immer zu spät. Und so bewegte sich in seinem Leben nichts mehr, alles war zum Stillstand gekommen.
Doch das findet in der Erzählung ein Ende, und zwar nicht durch diesen Teich, sondern weil Jesus zu ihm kommt. Er sieht diesen Menschen, geht zu ihm hin und spricht ihn an. Er weiß also um ihn, und dann genügt ein einfaches Wort aus seinem Mund, und der Kranke wird gesund. Jesus sagt zu ihm: „Steh auf, nimm dein Bett und geh umher“. Und der Mann gehorcht. Ohne Widerspruch, ohne Zögern oder Zweifeln befolgt er die Aufforderung Jesu und wird gesund, endlich, nach 38 Jahren! Er rollt seine Schlafmatte zusammen und verlässt die Hallen seines Elends, seiner vergeblichen Hoffnung und seiner Sehnsucht.
Und das ist der Punkt, an dem diese Geschichte eine Bedeutung hat. Die Heilungswunder Jesu sind für uns ja immer etwas problematisch, weil wir diese Erfahrungen so nicht machen: Kaum jemand wird durch ein Wunder oder durch den Glauben von einer chronischen Krankheit geheilt. Trotzdem ist die Geschichte sehr schön, denn an Geist und Seele können wir etwas Ähnliches erleben.
Es gibt ja Situationen, in denen sind wir ebenfalls wie gelähmt: Nichts bewegt sich mehr in unserem Leben. Das kann durch dauernde Konflikte geschehen, die alles überschatten, unerfüllte Wünsche und Erwartungen, Ängste, Sorgen, Wut oder Ärger, oder auch durch Überforderung, Stress, zu viel Druck, zu viel Arbeit, und vieles mehr.
Die Probleme scheinen zwar unlösbar, aber meistens haben wir trotzdem eine bestimmte Idee, wodurch sich das ändern könnte. Wir meinen zu wissen, von woher die Heilung kommen müsste, was die Lösung wäre. Sie liegt bloß in weiter Ferne und tritt nicht ein, weil andere uns daran hindern, weil die Umstände es nicht zulassen, weil die Zeit noch nicht gekommen ist oder ähnliches. Das sind unsere Gedanken, und darin schwingt meistens auch etwas Selbstmitleid oder ein Vorwurf mit. Bildlich gesprochen liegen wir an einem magischen Teich und warten darauf, dass das Wasser sich bewegt und wir hineinsteigen können. Wir sind auf diese eine Möglichkeit fixiert, wie der Kranke in unserer Geschichte. Und dabei merken wir nicht, dass wir in Wirklichkeit genauso verloren sind wie er. Wir richten uns vielmehr in unseren Gedanken ein, sie sind uns irgendwann vertraut, selbst wenn sie nicht weiterführen. Wir gewöhnen uns an dieses Lebensgefühl, das damit einhergeht. Und so warten und hoffen wir vergeblich und verlieren den Zugang zum Leben. Alles steht still.
Doch für uns kann sich genauso etwas ändern, wie für den Kranken, denn Jesus kommt auch zu uns. Er spricht uns an und fordert uns auf, einfach aufzustehen. Damit das geschehen kann, müssen wir nur auf ihn blicken, auf sein Wort hören, und die Ideen, auf die wir fixiert sind, einmal loslassen. Die Hilfe kommt aus einer ganz anderen Richtung, als wir denken. Es sind gar nicht die widrigen Umstände oder die schwierigen Menschen, die uns unbeweglich machen, sondern unsere festgefügten Vorstellungen davon, was geschehen müsste. Es gilt, dass wir die aufgeben und uns stattdessen an Jesus wenden und ihm gehorchen, ohne Widerspruch, ohne Zögern oder Zweifeln. Jesus sagt auch zu uns: „Steh auf! Verlass deine Ideen und deine Vorstellungen, sie helfen dir nicht.“ Und er gibt uns die Kraft dazu. In seiner Gegenwart werden wir neu belebt. Verkrustungen der Seele und des Geistes werden gelöst, es bewegt sich etwas, der Stillstand hat ein Ende. Denn Jesus durchbricht unsere Einsamkeit und löst das Selbstmitleid auf.
Auf den Mann in unserer Geschichte kam ja etwas völlig neues und unbekanntes zu. Er kannte das Leben, das auf ihn wartete gar nicht. Aber er hat sich trotzdem getraut, aufzustehen und in dieses Leben hineinzugehen. Und genauso befähigt Jesus auch uns, das Vertraute zu verlassen und in unbekannte Gefilde aufzubrechen. Wir hören auf, uns zu bedauern und sind nicht mehr allein. Wir bekommen den Mut, Neues zu wagen und kennenzulernen. Jesus kann unsere Seele heilen. Er hilft uns, die Hallen unseres Elends, unsere vergeblichen Hoffnungen und heimlichen Vorwürfe zu verlassen. Durch ihn erfüllt sich unsere Sehnsucht nach Veränderung, nach Bewegung und Aufbruch auf wunderbare Weise. Wir brauchen kein magisches Wasser, wir brauchen nur seine Gegenwart, sein vollmächtiges Wort und seine Kraft. Und die sind da, an jedem Tag, zu jeder Stunde, in jedem Augenblick.
Amen.