Gott ist der Eine

Predigt über Hiob 23, 1- 17: Hiobs dritte Antwort an Elifas
11. Sonntag nach Trinitatis, 30. und 31.8.2025, 18 und 11Uhr, Luther- und Jakobikirche Kiel

Liebe Gemeinde.

Ihr kennt aus der Bibel sicher die Geschichte von Hiob. Er war ein frommer und rechtschaffener Mann, gottesfürchtig, anständig und gut. Er hatte sieben Söhne und drei Töchter und besaß riesige Herden von Schafen, Kamelen, Rindern und Eseln. Er war also reich und hatte einen großen Betrieb. Dazu gehörten noch viele Leibeigene und Bedienstete.

Doch eines Tages kam großes Unglück über ihn, angeblich weil Gott ihn prüfen wollte. So wird es am Anfang des Buches jedenfalls erzählt. Seine Herden wurden durch Feinde und Feuer zerstört und die Knechte getötet. Seine Söhne und Töchter aßen und tranken gerade im Hause ihres Bruders, da kam ein großer Wind von der Wüste her, der das Haus zum Einsturz brachte, und sie wurden darunter begraben. Zuletzt wurde Hiob am ganzen Körper mit bösen Geschwüren geschlagen, so dass ihm nichts anderes blieb, als sich in die Asche zu setzen und mit einer Scherbe seine Haut zu schaben. Auch seine Frau sagte sich von ihm los. Er war arm, krank und total einsam. Als Bündel Elend bot er ein Bild des Schreckens und des Jammers.

Da kamen seine drei Freunde, Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama, um ihn zu beklagen und zu trösten. (Hiob 1) Sie führten lange Gespräche mit ihm. Jeder entfaltete seine Meinung in jeweils drei langen Reden. Alle waren fest davon überzeugt, dass Hiob gesündigt haben musste. Wenn er das zugeben, bereuen und sich bessern würde, dann würde Gott ihm gnädig sein und sein Schicksal wieder wenden.

Doch so einfach war die Situation leider nicht, und damit beschäftigt sich das ganze Buch Hiob. Es stellt die Frage, was denn passiert, wenn ein Unschuldiger leidet. Welche Antwort gibt es darauf? Was soll das? Wie kommt er da wieder heraus und welche Rolle spielt Gott? Das Buch Hiob setzt sich sehr kritisch mit der Weisheit der Freunde auseinander, und diese Kritik finden wir in den Antworten Hiobs. Auch das sind jeweils lange Redegänge. Seine dritte Antwort an Elifas von Teman ist heute unser Predigttext und lautet folgendermaßen:

Hiob 23, 1- 17:

1 Hiob antwortete und sprach: 2 Auch heute lehnt sich meine Klage auf; seine Hand drückt schwer, dass ich seufzen muss. 3 Ach dass ich wüsste, wie ich ihn finden und zu seinem Thron kommen könnte! 4 So würde ich ihm das Recht darlegen und meinen Mund mit Beweisen füllen 5 und erfahren die Reden, die er mir antworten, und vernehmen, was er mir sagen würde. 6 Würde er mit großer Macht mit mir rechten? Nein, er selbst würde Acht haben auf mich. 7 Dann würde ein Redlicher mit ihm rechten, und für immer würde ich entrinnen meinem Richter! 8 Aber gehe ich nach Osten, so ist er nicht da; gehe ich nach Westen, so spüre ich ihn nicht. 9 Wirkt er im Norden, so schaue ich ihn nicht; verbirgt er sich im Süden, so sehe ich ihn nicht. 10 Er aber kennt meinen Weg gut. Er prüfe mich, so will ich erfunden werden wie das Gold. 11 Denn ich hielt meinen Fuß auf seiner Bahn und bewahrte seinen Weg und wich nicht ab 12 und übertrat nicht das Gebot seiner Lippen und bewahrte die Reden seines Mundes bei mir. 13 Doch er ist der Eine – wer will ihm wehren? Und er macht’s, wie er will. 14 Ja, er wird vollenden, was mir bestimmt ist, und hat noch mehr derart im Sinn. 15 Darum erschrecke ich vor seinem Angesicht, und wenn ich darüber nachdenke, so fürchte ich mich vor ihm. 16 Gott ist’s, der mein Herz mutlos gemacht, und der Allmächtige, der mich erschreckt hat; 17 denn nicht der Finsternis wegen muss ich schweigen, und nicht, weil Dunkel mein Angesicht deckt.

Das ist eine der langen Reden Hiobs. Elifas hatte ihm geraten, sich mit Gott zu vertragen, dann wird es ihm auch wieder gut gehen. Er sollte seine Weisung annehmen, sich bekehren und demütigen. Dann wird er sich auch wieder an Gott freuen können, und Gott wird ihn erhören. „Denn er erniedrigt die Hochmütigen; aber wer seine Augen niederschlägt, dem hilft er.“ (22,29) Das ist sein Schlusssatz.

Doch der hilft Hiob nicht, denn er war nie „hochmütig“ und hat immer „die Augen niedergeschlagen“. Er weiß nicht mehr, wo Gott ist, wer er ist und wie er glauben soll. Er zweifelt und ist ratlos. Das Einzige, was er tun kann, ist trotz dieser Ratlosigkeit an Gott festzuhalten, ihm die Ehre zu geben, auch ohne dafür einen persönlichen Grund zu haben, ohne die Erfahrung von Gottes Nähe und Liebe. Und das tut er. Gegen die Vernunft, gegen alle Einsicht und gegen sein eigenes Gefühl der Verlassenheit lobt er Gott. „Doch er ist der Eine – wer will ihm wehren? Und er macht’s, wie er will. Ja, er wird vollenden, was mir bestimmt ist, und hat noch mehr derart im Sinn.“

Das ist sein Bekenntnis, auf das seine Rede hinausläuft. Sie ist zwar eine Klage und drückt viel Traurigkeit, Angst und Einsamkeit aus, aber sie endet nicht in der totalen Verzweiflung. Hiob beugt sich, ist demütig und bleibt weiter geduldig. Er hofft darauf, dass sich sein Schicksal eines Tages wieder ändern wird.

Und das ist auch die Botschaft für uns: Es ist gut, wenn wir „still warten“ und ruhig bleiben. Es nützt nichts, wenn wir uns auflehnen und abmühen. Besser ist es, Gottes Macht zu preisen und seine Gnade zu rühmen, denn nur dann erfahren wir auch sein Heil.

Das gilt besonders dann, wenn wir die Nähe Gottes nicht mehr spüren. Solche Situationen kennen wir sicher alle, in denen Gott abwesend zu sein scheint. Wir verstehen ihn nicht, zweifeln, hadern und klagen. Wir können nicht mehr richtig glauben, weil das Leid, das wir empfinden, stärker ist.

Das kann durch verschiedene Ereignisse ausgelöst werden. Es kann ein Schicksalsschlag sein, ein schwerwiegender Verlust, eine Krankheit, ein Konflikt. Und auch die allgemeine Weltlage kann uns in die Verzweiflung treiben. Wir hören so viel Schlimmes, von Kriegen, Vertreibung, Gewalt und Tod. Ungerechtigkeit und Hass greifen um sich, Egoismus, Gier und Machtwille scheinen gerade an vielen Stellen in der Welt zu siegen.

Wo ist Gott da? Warum greift er nicht ein? Wie sollen wir noch an ihn glauben? Diese Fragen stellen wir uns, und um sie geht es auch im Buch Hiob. Die Zweifel an Gott sind genauso alt wie der Glaube an ihn. Menschen haben sie immer wieder, und wenn sie einmal in unsrem Kopf sind, lassen sie uns nicht so schnell wieder los.

Doch genau da müssen wir ansetzen. Anstatt mit Gott zu rechten und ihm Vorwürfe zu machen, müssen wir einmal in uns gehen und uns selber eine Frage stellen, und zwar die nach unserem Gottesbild. Wir stellen uns Gott ja irgendwie vor und haben auch Erwartungen an ihn: Er soll gut sein, gnädig und liebevoll, helfend und beschützend. Wenn er das nicht mehr ist, fangen wir an zu zweifeln. Doch wir müssen uns klar machen, dass dann eigentlich nur unser Bild von ihm ins Wanken gerät, unsere Vorstellungen und Wünsche. Anstatt uns gegen Gott zu wenden, sollten wir uns lieber von unsren Bildern befreien, sie abtun und loslassen. Das ist das erste.

Als zweites müssen wir einsehen, dass Gott größer ist als die Gedanken, die wir über ihn haben. Wir dürfen uns nicht über ihn stellen. Dann ist er ja auch nicht mehr Gott. Ohne dass wir es merken, verfallen wir damit dem Hochmut. Das Wort kommt von „hoch“, und da sind wir gerne, oben, überlegen und eigenmächtig. Wir überheben uns, und damit entfernen wir uns natürlich von Gott. Denn groß ist allein er, und es gilt auf ihn zu blicken, trotz allem, ohne Bild, ohne Grund, ohne Erfahrung.

Wenn wir Gott wirklich kennen lernen wollen, muss es uns um ihn selber gehen. Gott ist nicht unser Handlanger, sondern er ist unverfügbar. Anstatt nach „Osten, Westen, Norden oder Süden“ zu schauen, muss unser Blick auf Gott selber gerichtet sein. Wir finden ihn nicht in der Welt, sondern nur, wenn wir ihn anbeten und ihm die Ehre geben. Denn Gott ist nicht ein Teil unseres Lebens oder unseres Denkens, sondern wir sind ein Teil von ihm. Jeder und jede Einzelne ist ein Gedanke Gottes, wir sind sein Bild, seine Idee, und nicht umgekehrt. Es ist gut, wenn wir das demütig erkennen, still werden und uns an seiner Gegenwart genügen lassen.

Es gibt unzählige Menschen, die das getan und davon Zeugnis abgelegt haben. Es war nicht nur Hiob. Sie sind durch die „dunkle Nacht“ gegangen, wie sie es nennen. Fast jeder und jede Gläubige erlebt das irgendwann einmal. Es ist die Nacht der Gottesferne. Die Begeisterung für Gott löst sich auf, es bleibt nur innere Leere. Aber viele von denen, die von solchen Erfahrungen berichten, bezeugen gleichzeitig, dass sie trotzdem weiter geglaubt haben und irgendwann getröstet wurden. Bei Hiob war es auch so. Am Ende des Buches zeigt Gott sich und stellt sein Leben wieder her, weil er es wollte.

Luther hat diese Haltung das große „Dennoch“ genannt. Es ist ein Glaube ohne Grund, auf den ich mich dann in allen Lebenslagen gründen kann; der „reine Glaube“, der sich an nichts hält und dann selber zum festen Halt wird.

Ein weiteres Beispiel für diese Weise des Glaubens sind viele Baltendeutsche, die nach dem Ersten Weltkrieg wegen ihres christlichen Glaubens und ihrer deutschen Herkunft von den kommunistischen Machthabern verfolgt und in Gefängnisse und Lager eingesperrt wurden. Sie haben trotzdem weiter fest an Gott geglaubt und oft ein Lied gesungen, das sich ihnen als Trost eingeprägt hatte. Es stammt von einer damaligen Zeitgenossin, Hedwig von Redern, einer Dichterin, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelebt hat.  

Sie war das älteste Kind des Generalleutnants Hermann von Redern aus einem märkischen Uradelsgeschlecht. Als Hedwig 20 Jahre alt war, starb ihr Vater, und ihr Wohnsitz wurde durch einen Brand zerstört. Die Familie zog in eine Mietwohnung in Berlin, wo sie von da an in relativ ärmlichen Verhältnissen lebte.

Doch Hedwig hat nicht an Gott gezweifelt. Im Gegenteil, im christlichen Glauben fand sie Mut und fing an, christliche Texte zu dichten.

Eine besondere Wirkungsgeschichte hatte dabei das Lied: „Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl, das macht die Seele still und friedevoll. Ist‘s doch umsonst, dass ich mich sorgend müh, dass ängstlich schlägt mein Herz, sei’s spät, sei’s früh. Du weißt den Weg ja doch, du weißt die Zeit, dein Plan ist fertig schon und liegt bereit. Ich preise dich für deiner Liebe Macht, ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht.“ (EG 603,1.2)

Amen.

„Ihr seid das Licht der Welt“

Predigt über Matthäus 5, 13- 16: Salz und Licht
8. Sonntag nach Trinitatis, 9. und 10. 8. 2025, 18 und 11 Uhr

Luther- und Jakobikirche Kiel

Matthäus 5, 13- 16

13 Ihr seid das Salz der Erde. Wenn nun das Salz nicht mehr salzt, womit soll man salzen? Es ist zu nichts mehr nütze, als dass man es wegschüttet und lässt es von den Leuten zertreten.
14 Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt, die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein.
15 Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.
16 So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Liebe Gemeinde.

Wenn wir in einen dunklen Raum kommen, suchen wir als erstes den Lichtschalter. Wir wollen es hell haben und sehen, was um uns ist. Wenn sich kein Licht anschalten lässt, benutzen wir eine Taschenlampe oder eine Kerze, denn die Helligkeit brauchen wir. Sie vertreibt die Dunkelheit und damit das Bedrohliche und Unheimliche. Sie nimmt uns die Unsicherheit und die Angst.

Deshalb gilt das Licht als Symbol für das Gute und Hilfreiche, das Heil und die Freude. In dieser Bedeutung kommt es an unzähligen Stellen in der Bibel vor. Auch Jesus benutzt das Licht als ein Bild, mit dem er seinen Jüngern sagt, wie sie leben sollen. Wir haben seine Worte vorhin gehört. „Ihr seid das Licht der Welt“, sagt er ihnen.

Der Abschnitt gehört zur Einleitung der Bergpredigt, die wir im Matthäusevangelium in den Kapiteln fünf bis sieben finden. Diese Rede Jesu enthält die wichtigsten Teile seiner Lehre, an die seine Jünger sich halten sollen. Er beschreibt damit, wie er sich die christliche Gemeinde vorstellt, besonders in einer ihr feindlich gesonnenen Welt.

Jesus will deutlich machen, dass mit ihm etwas grundlegend Neues in die Welt gekommen ist. Durch sein Erscheinen ist das „Reich Gottes“ angebrochen, das „Himmelreich“, wie er es auch oft nennt. Es ist ein außerweltliches Reich, das den Weltreichen gegenübersteht. In der christlichen Gemeinde ist es schon gegenwärtig. Die Kirche ist sein Abbild, d.h. sie repräsentiert die Königsherrschaft Christi. Das kann sie allerdings nur, wenn sie seine Lehre beachtet. Durch sie gewinnt die Kirche ihr Profil und ihre Gestalt. Deshalb legt er sie seinen Jüngern dar.

In den Versen, die wir gelesen haben, beschreibt er seine Botschaft mit zwei Gleichnissen aus der damaligen Alltagswelt. Er bezeichnet diejenigen, die auf ihn hören, als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“. Das Salz würzt und konserviert Speisen, das Licht vertreibt die Dunkelheit.

Für das zweite Bild vom Licht führt Jesus wiederum zwei Beispiele an, die verdeutlichen, was er damit sagen will. Zunächst erwähnt er die „Stadt auf dem Berg“. Das war eigentlich Jerusalem. Es wurde von den Juden gern als „Licht der Welt“ bezeichnet. Alle Völker ziehen deshalb dahin, das war ihre Überzeugung. In Zukunft wird aber – so die Botschaft Jesu – die christliche Gemeinde diese Anziehungskraft haben. Sie strahlt die Herrlichkeit des Herrn aus. Das ist das eine Bild.

Mit dem anderen Beispiel werden wir in ein palästinensisches Bauernhaus zurzeit Jesu geführt. Es wurde in der Dunkelheit von einer tönernen Öllampe erhellt, die man auf einen eisernen Halter mit hohem Fuß, den Leuchter stellte. So strahlte das Licht der Lampe besonders hell. Alle im Haus Befindlichen hatten dadurch vom Licht etwas. Es wäre völlig unsinnig gewesen, hätte man die Lampe statt auf einen Leuchter unter einen Kübel gestellt. Dann hätte niemand etwas davon gehabt, nach einer Zeit wäre das Licht sogar ausgegangen.

Jesus sagt damit, dass das Licht selbstverständlich in der Öffentlichkeit leuchtet. Und genauso sollen es auch seine Jünger tun. „So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ Das ist sein Schlusssatz, mit dem er die Bilder deutet. Das Licht, das die Jünger sein und verbreiten sollen, sind die guten Werke, die sie vor den Menschen tun, um sie zum Lobpreis des himmlischen Vaters anzuregen. Und das heißt, der Anschluss an Jesus, Nachfolge und Annahme des Evangeliums vom Reich Gottes wirken sich in der Glaubenspraxis aus. Es ist nicht gleichgültig, wie die Christen leben, was sie tun und sind. Und zwar nicht nur, weil ihr eigenes Seelenheil davon betroffen ist, sondern auch, weil es eine Bedeutung für die Welt hat.

Lasst uns über diesen Zusammenhang also nachdenken und fragen, wie wir unser Leben gestalten müssen, damit wir „Licht der Welt“ sind.

Nötig ist es ja, dass in dieser Welt Lichter leuchten, nicht nur im materiellen oder technischen Sinn. Es herrscht – sinnbildlich gesprochen – gerade viel Dunkelheit, durch die Kriege, von denen wir täglich hören, die Umweltprobleme, die politischen Kräfteverhältnisse und vieles mehr. Wir fühlen uns bedroht und suchen einen Lichtschalter, um die Dunkelheit zu beenden. Es ist schwer, ihn zu finden, und manchmal verzagen wir auch.

Doch es gibt ihn, und Jesus sagt uns, wo er ist: nämlich in jedem und jeder Einzelnen von uns. Wir müssen das Licht in uns selber suchen, nicht außerhalb von uns, nicht bei anderen, bei den Politikerinnen oder Regierenden, Wissenschaftlern, Ärztinnen oder Lehrern, nicht in der Welt, sondern in unserem Geist und in unserer Seele. „Wir sind das Licht der Welt.“

Doch was bedeutet das nun? Es klingt ja etwas hochmütig, so etwas zu behaupten. Und steckt darin nicht ein sehr hoher Anspruch? Wie sollen wir das denn sein? Von „guten Werken“ war die Rede, und die sehen wir kritisch. Wir wollen keine Forderungen und keine Moral, sondern Erlösung und Rettung. Das sind unsere Gedanken.

Doch so dürfen wir die Worte Jesu nicht hören. Jesus will uns nicht unter Druck setzen, und er formuliert auch keine Gesetze. Er benennt vielmehr die Möglichkeiten, die wir haben, und das sind ganz viele. Wir müssen nur einmal in uns hineinschauen und uns mit uns selber beschäftigen., mit unserem Empfinden und Denken, mit unseren Gefühlen und unserem Bewusstsein.

Wir vermeiden das gern, weil wir dabei nicht nur Schönes zu sehen bekommen. Im Gegenteil, wir wissen, wo unsere Schwächen sind, dass wir unvollkommen sind und Fehler haben. Meistens äußert sich das im Umgang mit anderen Menschen. Da herrschen oft Egoismus und Gleichgültigkeit. Wir sehen lieber weg, wenn es irgendwo Probleme gibt, bleiben gefühlskalt und wenden uns ab. Auch Ärger und Ungeduld können uns ergreifen, wenn andere nicht unseren Vorstellungen entsprechen. So entstehen Streit, und manchmal auch Hass und Krieg. Wir sind keine Heiligen und auch keine Heldinnen, sondern werden oft von negativen Kräften gesteuert. Verschlossenheit, Unruhe und Hektik, Angst oder Verzweiflung gehören ebenfalls dazu

Das alles gilt es wahrzunehmen, ohne uns dafür zu schämen oder zu verurteilen. Wir machen uns einfach nur bewusst, wer wir sind und was alles zu uns gehört. Und das tut gut, denn wir lösen uns dabei ein Stück von uns selber und kommen uns gleichzeitig nahe. Wir spüren uns und lernen uns kennen. Das wäre der erste Schritt.

Als nächstes ist es gut, wenn wir uns so, wie wir sind, dem Licht Gottes aussetzen und uns von ihm anstrahlen lassen. Es ist durch Jesus Christus erschienen, er ist das „Licht der Welt“ (Joh.8,12). Das wird überall bezeugt, in der Bibel und in der geistlichen Tradition. Es ist eine Botschaft und eine Erfahrung, die wir selber machen können. Wir müssen Jesus Christus nur darum bitten, in unserem Leben zu leuchten.

Der pietistische Pastor Georg Neuss hat diese Bitte in einem Lied so formuliert: „Lass deines guten Geistes Licht und dein hell glänzend Angesicht erleuchten mein Herz und Gemüt, o Brunnen unerschöpfter Güt.“ (EG 389,3) Damit greift er das Bild von dem Licht sehr schön auf: Unsere Seele und unsere Empfindung sind wie ein Raum, in dem es dunkel ist. Aber wir können Jesus bitten, einzutreten und diesen Raum hell zu machen, und zwar immer wieder.

Es sollte zu einer Gewohnheit werden, einem Ritual, mit dem wir uns darin üben, das Licht Christi anzuschalten. Am besten ist es, wenn wir uns dafür täglich Zeit nehmen. Dabei spielt es keine Rolle, welchen Zeitpunkt am Tag wir wählen und an welchem Ort wir uns gerade befinden, denn Jesus Christus ist immer und überall da. Seine „Güte“ kennt keine Grenzen, sie ist wie ein „Brunnen“, der nie versiegt. Und sie ist völlig unabhängig von der Situation, in der wir sind. Wir sollen also nicht selber leuchten, sondern uns in das Licht Christi hineinstellen und uns davon durchfluten lassen. Dann wird unser Leben ganz von selber hell.

Und wenn das geschieht, werden wir auch nach außen hin strahlen. Wir werden durchlässig für das Licht Christi, es scheint durch uns hindurch in diese Welt.

Konkret heißt das, dass wir ganz anders miteinander umgehen können. Wir bekommen „Himmelsgüter“, wie Georg Neuss sie in seinem Lied nennt. Er zählt „Weisheit, Stärke, Rat und Verstand“ auf, (EG 389,4) Aber es gehören auch Geduld und Barmherzigkeit dazu, Ruhe und Zuversicht, Liebe und Friedfertigkeit. Wir wenden uns einander zu, öffnen uns und können helfen, teilen und abgeben. Wir überschätzen uns nicht selber, sind ehrlich und verbreiten Hoffnung. Wir „tragen ein Licht in die Welt.“ (EG 539) Natürlich werden wir darin nie vollkommen sein. Wir sind noch auf dem Weg dorthin. Es ist wichtig, dass wir uns das sagen, damit wir uns nicht unter Druck setzen. Keiner von uns ist schon ganz und gar hell und rein. Aber das sollen wir auch nicht sein. Jesus entwirft hier keinen Zwang, sondern ein Idealbild, dem wir uns annähern können. Luther hat einmal gesagt: „Es ist noch nicht getan oder geschehen, es ist aber im Gang und im Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es glüht und glänzt noch nicht alles, es reinigt sich aber alles.“ Auf diesen Weg können wir uns machen. Wir können immer wieder den Lichtschalter in uns betätigen, damit es in unserer Seele und in der Welt heller wird, indem wir Gott um sein Licht bitten.

Wir können das gut mit dem genannten Lied von Georg Neuss tun:

  1. Ein reines Herz, Herr, schaff in mir,
    schließ zu der Sünde Tor und Tür;
    vertreibe sie und lass nicht zu,
    dass sie in meinem Herzen ruh.
  2. Dir öffn ich, Jesu, meine Tür,
    ach komm und wohne du bei mir;
    treib all Unreinigkeit hinaus
    aus deinem Tempel, deinem Haus.
  3. Lass deines guten Geistes Licht
    und dein hell glänzend Angesicht
    erleuchten mein Herz und Gemüt,
    o Brunnen unerschöpfter Güt,
  4. und mache dann mein Herz zugleich
    an Himmelsgut und Segen reich;
    gib Weisheit, Stärke, Rat, Verstand
    aus deiner milden Gnadenhand.
  5. So will ich deines Namens Ruhm
    ausbreiten als dein Eigentum
    und dieses achten für Gewinn,
    wenn ich nur dir ergeben bin.

Heinrich Georg Neuss 1703