Christus in uns

Predigt über Galater 2, 16- 21: Rechtfertigung ohne Werke des Gesetzes
11. Sonntag nach Trinitatis, 11.8.2024. 11 Uhr
, Jakobikirche Kiel

Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus.

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht:

Galater 2, 16- 21

16 Doch weil wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht.
17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden suchen, auch selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus ein Diener der Sünde? Das sei ferne!
18 Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann mache ich mich selbst zu einem Übertreter.
19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt.
20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.
21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.“

Der Herr segne an uns dieses sein Wort.

Liebe Gemeinde.

Der Abschnitt aus dem Galaterbrief, den ich eben vorgelesen habe, ist ja nicht so ganz einfach zu verstehen. Das klingt alles sehr theologisch und theoretisch. Es gibt aber einen ganz konkreten und historischen Hintergrund. Wenn wir den beachten, wird das Ganze schon sehr viel lebendiger.

Lasst uns also zunächst danach fragen, warum Paulus das hier überhaupt geschrieben hat. Die Verse stehen im Brief an die Galater, und in der Gemeinde gab es Ärger. Paulus hatte sie gegründet. Er hatte das Evangelium von Jesus Christus verkündet, der jeden Menschen liebt und annimmt und vor Gott rechtfertigt. Als alle das verstanden hatten und Paulus den Eindruck hatte, dass sie nun ohne ihn ihren neuen Glauben leben könnten, war er wieder abgereist, um woanders zu predigen und Menschen für Jesus Christus zu gewinnen. Das war ja sein Auftrag. 

Doch in der Zeit, als er nicht da war, hatten sich Gegner von Paulus in die Gemeinde eingeschlichen. Sie kritisierten seine Lehre und behaupteten, die Werke des jüdischen Gesetzes wären nach wie vor entscheidend, um vor Gott als gerecht zu gelten. Es waren Juden, die die christliche Lehre teilweise zwar angenommen hatten, sie aber doch mit dem Gesetz und ihren alten Vorstellungen von Gott wieder unterwanderten. Mit ihnen streitet Paulus sich im Galaterbrief, denn die Galater glaubten ihnen. Sie entfernten sich von Paulus und dem Evangelium von der „Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben“. Das ist der eine Konflikt, mit dem Paulus es zu tun hat. 

Gleichzeitig ärgert er sich über Petrus, den anderen großen Apostel der Urchristenheit. Er war längst mit ihm übereingekommen, dass auch sogenannte Heiden zur Gemeinde Christi gehören können, also Nicht-Juden, und dass die auch nicht vorher zum jüdischen Glauben übertreten müssen. Jeder und jede wird von Christus angenommen und kann getauft werden. Denn die entscheidende Botschaft lautet, dass Christus die Sünder, also alle Menschen annimmt, und das hatte auch Petrus längst unterschrieben. Trotzdem hatte er bei einem wichtigen Treffen so getan, als ob die Reinheitsvorschriften der Juden doch noch für Christen gelten.

Diese Auseinandersetzungen stehen wie gesagt hinter dem Text, deshalb betont Paulus hier die Rechtfertigung allein aus Glauben. Seine Botschaft lautet: Christus vergibt die Sünde und gleichzeitig erneuert er das Leben von Grund auf. Der Mensch, der an Christus glaubt, wird mit ihm verbunden, er tritt in eine neue Wirklichkeit ein. Das Alte verliert seine Macht. Ein Christ oder eine Christin wird von ganz anderen Kräften bestimmt und erfüllt, als vorher. Paulus formuliert das mit dem Satz: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ Das heißt, den alten Paulus gibt es nicht mehr, und seine neue Existenz ist so durch und durch von Christus bestimmt, dass er sagen kann: In mir lebt Christus. Noch ist er zwar ein sterblicher Mensch, aber sein wirkliches Dasein besteht im Glauben an den Sohn Gottes, der ihn geliebt und sich selbst für ihn hingegeben hat.

Christus erneuert also das ganze Sein. Er verbindet sich selber mit dem Glaubenden zu einer innigen Gemeinschaft im Geist und wird seine neue Mitte. Das kommt hier zum Ausdruck, und so war das Leben von Paulus auch. Er wurde Christus ähnlich.

Doch was heißt das nun für uns? Die „Rechtfertigung allein aus Glauben“ ist ja irgendwie ein alter Zopf. Für uns lutherische Christen klingt der Ausdruck vertraut und klar, fast schon so ein bisschen abgenutzt.

Aber ist er das wirklich? Halten wir uns denn noch daran und leben wir dementsprechend? Das müssen wir genau hinterfragen, denn auch bei uns hat sich längst etwas verändert, und zwar hat sich genauso wie bei den Galatern eine neue Art der Werkgerechtigkeit eingeschlichen. Das müssen wir uns bewusst machen.

Wir wurden vom allgemeinen Leistungsdenken angesteckt. Das prägt ja in unserer Gesellschaft das Lebensgefühl. Angesehen werden diejenigen, die fleißig sind und Erfolg haben, die viel schaffen, Großes vollbringen und berühmt werden. Und diese Einstellung haben wir auch als Christen ganz oft. Bei uns ist wie überall der- oder diejenige die Beste, die am meisten erreicht. Leistung wird großgeschrieben, wer viel tut, macht immer einen guten Eindruck. Wer alt und krank ist, nur herumsitzt oder spazieren geht, zählt dagegen nicht mehr richtig. Auch unter Christen sind Erfolg und gute Ergebnisse wichtig. Zeit zu haben ist verpönt.

So ist die Standardfrage nach jeder Veranstaltung und jedem Gottesdienst: Wie viel Leute waren denn da? Waren es viele, haben wir Gutes geleistet, waren es wenige, haben wir praktisch versagt. Und auch gute Werke stehen längst wieder hoch im Kurs. Wer die meisten Bedürftigen versorgt, die größte Friedensinitiative zeigt oder viel Geld sammelt, ist ein guter Christ oder eine gute Christin und kommt bestimmt in den Himmel. Aktivität wir immer positiv bewertet.  

Und das ist auch alles ganz gut und wichtig, aber wir müssen die richtige Reihenfolge beachten. Wir dürfen unsere Taten nicht als eine Befolgung von Gesetzen verstehen, die an erster Stelle stehen, sie müssen vielmehr eine Folge dessen sein, was wir geschenkt bekommen haben, Früchte des Geistes. Paulus möchte, dass wir zuerst beachten, was Gott an uns tut, sonst entfernen wir uns von dem, was die „Rechtfertigung allein aus Glauben“ beinhaltet. Es geht beim Evangelium in erster Linie darum, dass wir von innen her erneuert und mit Kraft erfüllt werde, die Liebe Christi im Herzen lebendig wird, so dass wir dann frei und froh leben und handeln können. D.h. wir sollten in erster Linie auf etwas ganz anderes achten, als unsre sogenannten Erfolge. Es wäre gut, wenn wir die Gegenwart Gottes, seine Liebe und Gnade auch wirklich erleben. Mit allem anderen machen wir uns zu „Übertretern“ wie Petrus: Wir verleugnen das Geschenk, das Christus uns gemacht hat.

Außerdem tut uns das Leistungsdenken nicht gut. Heil und erlöst werden wir dadurch nicht. Im Gegenteil: Wir werden immer müder, denn es ist anstrengend, danach zu leben, und laugt uns aus. Und gerechtfertigt werden wir dadurch ebenso wenig, denn Gott möchte gar nicht, dass wir neue Anweisungen befolgen und auf Appelle reagieren. Er will vielmehr, dass wir in seine Gegenwart eintreten, ihn erkennen und uns von ihm erfüllen lassen. Und dazu müssen wir „mit Christus gekreuzigt werden“, d.h. wir müssen klein werden und abnehmen. Und das geht nur, wenn wir einmal nichts mehr tun, uns Zeit für Christus nehmen, still werden und beten.

Wir brauchen die „Muße mit Christus“, gelegentliche Unterbrechungen aller Aktivitäten und ein Abschied vom Arbeitswahn. Natürlich kann auch das wieder in Werkgerechtigkeit ausarten. Man könnte dahinter das Streben nach Heiligkeit vermuten, eine Superfrömmigkeit, die besonders belohnt wird. Doch so ist das nicht gemeint. Es geht bei der „Muße mit Christus“ nicht um die Stille oder das Gebet an sich. Sie sind kein Selbstzweck, sondern sollen uns mit Christus in Verbindung bringen und unser Leben neu machen.

Wir sollen uns nicht willentlich abtöten, sondern spüren, wie wir wirklich sind. Das „Sterben“ besteht nicht darin, dass wir uns künstlich klein machen, sondern die Kleinheit erkennen, die da ist. Wir sind eingeladen, zu unserer Unvollkommenheit zu stehen, zu unserer Schwäche und unseren Defiziten, sie auszuhalten und zu bejahen und mit ihr zu Christus zu gehen. Wir müssen uns nicht schämen, wenn wir nichts mehr leisten. Im Gegenteil: Genau dann kann Christus umso besser an uns handeln, uns „rechtfertigen“ und mit seinem Geist erfüllen. Und das tut er auch. Das Nichtstun oder die Muße eröffnen einen weiten Raum, sortieren das Leben neu und lassen eine andere Dimension einziehen.

In einem Text aus Taizé wird dieser Vorgang sehr schön beschrieben. Er lautet folgendermaßen: „Nur einen Augenblick DU sagen und Gott da sein lasen. Nur einen Augenblick sich lieben lassen ohne Vorbehalt, ohne Zögern, bedingungslos und ohne auszuschließen, dass ich nachher brenne. Das ist Schweigen vor Gott. Dann ist im Schweigen Stille und Reden und Handeln und Leiden und Hoffen und Lieben zugleich. Dann ist Schweigen Empfangen.“ Gott will, dass wir uns dafür Zeit nehmen.

Wir können damit beginnen, indem wir das Lied singen: „Gott ist gegenwärtig“. Wir laden uns damit gegenseitig ein, ihn „anzubeten“, und bitten Gott darum, uns „sanft und still“ zu machen und „in uns zu wohnen“.

Amen.

Lied 165, 1. 7. 8: Gott ist gegenwärtig