2. Sonntag nach Ostern, Misericordias Domini, 26.4.2020
Auch an diesem Sonntag dürfen wir uns noch nicht wieder in unseren Kirchen versammeln. Vielleicht freut der Teufel sich darüber, dass die Kirchen endlich leer sind. Doch da hat er sich zu früh gefreut: Es gibt plötzlich viel mehr Kirchen, denn die Gottesdienste finden nun in den Wohnungen der Christen statt. Damit das auch an diesem Sonntag wieder geschehen kann, ist hier ein Entwurf für den Ablauf:
Lesepredigt über 1. Petrus 2, 21b- 25: Ermahnung zur Christusnachfolge
Liebe Gemeinde.
Der Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist. Dieses Bild existiert seit langem und lebt bis heute im Denken und im Sprachgebrauch vieler Menschen fort. Der Vater dieser Theorie ist der französische Philosoph René Descartes, der von 1596 bis 1650 lebte. Er betrachtete Leib und Seele als getrennte Einheiten und prägte unsere Vorstellung über Geist und Körper. Dabei glaubte er bereits an eine Interaktion zwischen Leib und Seele.
In der Medizin wurde diese Ansicht übernommen, etwa wenn Ärzte nach psychischen und physischen Beschwerden untergliedern und den wechselseitigen Einfluss als „psychosomatisch“ bezeichnen. Aber auch geläufigen Redewendungen wohnt dieses Verständnis inne: Wir „reden uns etwas von der Seele“ oder „es lastet uns etwas auf der Seele“, ohne dass es dafür eine körperliche Entsprechung gäbe.
In der Hirnforschung gilt die Zweiteilung von Leib und Seele als überholt, denn ein Interaktionszentrum im Gehirn konnte nie entdeckt werden. Die Theorie ist seit langem durch das Verständnis von der Nervenreizleitung über elektrische Erregung abgelöst.
Trotzdem hat sie etwas für sich. Sie ist anschaulich und leicht verständlich und liegt auch dem biblischen Menschenbild zu Grunde: Der Mensch ist ein Geist, er hat eine Seele und lebt in einem irdischen Leib. Für diese Vorstellung gibt es viele Belege.
Was dabei unsere Seele betrifft, so wird sie meistens kritisch gesehen, weil sie am liebsten den eigenen menschlichen Weg gehen will. Doch das ist gefährlich, denn wenn wir uns von der Seele leiten lassen, sind wir Schwankungen unterworfen. Unsere Gefühle sind mal hoch und mal tief, und mit unserem Eigenwillen widerstehen wir oft den Plänen Gottes. Deshalb braucht unsere Seele einen göttlichen „Wächter“ und „Leiter“. Sie muss lernen, sich an dem Wort Gottes und seinen Verheißungen zu orientieren. Das kommt an vielen Stellen in der Bibel zum Ausdruck, wie auch in dem Abschnitt aus dem ersten Petrusbrief, der heute unser Predigttext ist. Er lautet folgendermaßen:
1. Petrus 2, 21b- 25
21b Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen;
22 er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand;
23 der nicht widerschmähte, als er geschmäht wurde, nicht drohte, als er litt, er stellte es aber dem anheim, der gerecht richtet;
24 der unsre Sünde selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden.
25 Denn ihr wart wie die irrenden Schafe; aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.“
Hier ist von einem „Umherirren“ die Rede, und zwar von „irrenden Schafen“. Das ist ein Bild, bei dem es dem Schreiber hauptsächlich um den Hirten geht, der den Schafen hilft, ihren Weg zu finden: Genauso, wie sie sich ohne den Hirten hoffnungslos verlaufen würden, genauso ginge es uns ohne Christus. Das ist seine Aussage. „Er ist der Hirte und Bischof unserer Seelen“, d.h. der „Beobachter, Beschützer und Bewahrer“. Auf diese Botschaft läuft der Textabschnitt hinaus.
Das Ganze ist so eine Art Christushymnus, mit dem der Verfasser die Zuhörer oder Leser ermahnen und auch ermutigen möchte. Er stellt Christus als Vorbild hin und gleichzeitig als den Erlöser und Retter. Er hat das in dieser Form wahrscheinlich aus der Tradition übernommen, als festes, zusammenhängendes Lehrstück.
Hier ist es ein Teil seiner Ermahnungen an Sklaven, von denen es in der neutestamentlichen Zeit und auch in den christlichen Gemeinden sehr viele gab. Er fordert sie zur Geduld auf. Sie sollen das Übel ertragen und das Unrecht erleiden, das ihnen zugefügt wird, und zwar genauso wie Christus es getan hat. Und damit spricht er natürlich alle an, die Christus nachfolgen. Sie sollen in seinen Spuren wandeln. Er hat als Unschuldiger gelitten und das schweigend auf sich genommen, ohne Gleiches mit Gleichem zurückzugeben. Er hat seine Sache Gott anheimgestellt. Und so sollen auch die Christen das Gericht Gottes nicht in eigener Regie vorwegnehmen, sondern ihre manchmal leidvolle Situation annehmen. Das ist der erste Teil dieses Lehrstücks.
Danach gibt der Verfasser aber noch mehr zu bedenken. Es bleibt nicht einfach nur bei der Ermahnung, sondern es folgt noch eine Motivierung und Begründung für die christliche Leidensnachfolge. Letzten Endes bedeutet sie nämlich Freiheit und Heilung, die Christus uns nicht nur vorgelebt, sondern auch bewirkt hat. „Er hat unsere Sünde selber an das Kreuz hinaufgetragen“, heißt es, und er hat uns damit von der Knechtschaft der Sünde frei und los gemacht. Er hat den üblichen Automatismus von Schmähung und Widerschmähung zerbrochen, und damit hat er das Heil bewirkt. Alle, die an ihn glauben, können deshalb in derselben Freiheit leben wie er. Das ist ihre neue Ausrichtung, ihr Ziel, das das Leben gestalten und prägen soll. Sie können ihre alten Gewohnheiten hinter sich lassen, umdenken und eine ganz andere Geisteshaltung einnehmen. Denn mit Christus hat etwas Neues angefangen, was dann am Ende mit dem Bild von dem „Hirten und Hüter der Seelen“ zusammengefasst wird:
D.h. Christus zeigt den Weg, er gibt Orientierung, nach ihm kann man sich ausrichten, und zwar in jeder Hinsicht. Er ist das Vorbild und gleichzeitig derjenige, der den Weg auskundschaftet, begleitet und überwacht. Von ihm kommt das Heil, das zur Überwindung führt. Denn er hat den Tod auf sich genommen und überwunden. Er hat ihn zwar nicht abgeschafft, aber er hat ihn durchschritten. Er hat die Vergänglichkeit angenommen, war geduldig und gehorsam und hat dabei auf Gott vertraut. Und dadurch hat er etwas erreicht, das viel größer ist als Raum und Zeit, das weit über die Vergänglichkeit hinausweist: Es ist ewiges Leben, das Christus allen schenkt, die ihm folgen. Und damit ist er für die Seele ein fester und zuverlässiger Halt. Er gibt innere Orientierung und Schutz, Heil und Befreiung. Wir müssen nur auf ihn schauen und uns fest mit ihm verbinden.
Und das ist gerade in diesen Zeiten besonders wichtig, denn wir erleben in der Coronakrise etwas, das wir vorher so in unserem Land nicht kannten: Uns werden unzählige Dinge plötzlich vorgeschrieben, die weit in unser persönliches Leben hineinreichen. Es gibt Verbote von Dingen, die wir für selbstverständlich halten: Familienbesuche, Gottesdienste, sportliche und kulturelle Veranstaltungen, Vereinstreffen und vieles mehr ist nicht mehr erlaubt. Ganz neue Regeln, Pflichten, Vorschriften und Gesetze sind entstanden, die uns alle einschränken. Krankenhäuser ähneln Hochsicherheitsgefängnissen, und selbst Sterbende dürfen nur in Ausnahmefällen besucht werden.
Das ist alles nur schwer zu ertragen, trotzdem machen die Menschen mit, denn die Denkrichtung dahinter teilen die meisten. Sie besteht darin, dass die körperliche Gesundheit und das Vermeiden des Sterbens als das höchste Gut angesehen wird, das es zu bewahren gilt.
Aber ist das eigentlich wirklich eine heilsame Denkweise? Wird sie unserem Leben gerecht, mit allem, was dazu gehört? Je länger dieser Zustand andauert, umso mehr bekomme ich das Gefühl, dass die Anordnungen wie ein „Umherirren“ sind. Unser Wohlbefinden wird auf den Leib reduziert, und dabei wird vergessen, dass wir aus noch viel mehr bestehen. Wir haben auch eine Seele und einen Geist, und die leiden z.Zt. bei den meisten Menschen viel mehr. Therapeuten rechnen jetzt schon damit, dass sie nach der Krise, wenn die Abstandregeln gelockert werden, einen enormen Zulauf haben werden. Denn es entsteht Verunsicherung und Angst. Die Aggressivität nimmt in vielen Familien zu, andere vereinsamen. Auch Traurigkeit, Stress und innere Verarmung sind die Folgen. Es stirbt zwar nicht der Leib, es sterben aber seelische Regungen, wir werden mental und psychisch stark geschwächt.
Und das ist meiner Meinung nach genauso gefährlich wie das Virus, denn natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen Leib und Seele, auch wenn im Gehirn dafür kein Interaktionszentrum gefunden wurde. Selbst führende Lungenärzte sagen uns, dass das Immunsystem gestärkt wird, wenn es uns seelisch gut geht. Es ist also dringend notwendig, dass wir darauf achten. Sonst wird diese Krise noch viel katastrophalere Folgen haben, als wir ahnen. Und dabei kann uns der Glaube an Jesus, den „Hirten unsere Seelen“, helfen, und zwar in drei Schritten.
Zunächst ist es wichtig, dass wir das Denken, das uns in den Medien und durch die Politik vorgesetzt wird, nicht einfach so übernehmen. Wir sind ja zum Glück noch frei in unseren Überlegungen. Träumen ist nicht verboten, sich etwas vorzustellen auch nicht, und erst recht nicht glauben, hoffen und lieben. Es gibt zwar Stimmen, die behaupten, dass die Religionsfreiheit gerade eingeschränkt wird, aber das stimmt nicht. Wir dürfen uns bloß nicht in größeren Mengen versammeln und dabei eng aneinander stehen, um unseren Glauben zu praktizieren. Alles andere ist erlaubt. Lasst uns das deshalb nutzen und die einseitige Sicht auf die Dinge, die uns gerade überall vorgesetzt wird, ablegen.
Das gelingt am besten, indem wir zweitens ganz nah bei uns selber bleiben, uns selber gut im Blick behalten und unseren eigenen Weg des Denkens und Fühlens finden. Und dabei dürfen wir barmherzig mit uns selber sein. Oft erlauben wir uns das nicht. Wir verurteilen uns schnell, wenn wir merken, dass uns die eigene Hülle zu eng wird, dass wir wütend oder ungeduldig werden, traurig oder niedergeschlagen. Wir denken, wir machen etwas falsch. Aber das hilft nicht weiter, es ist vielmehr ratsam, dass wir uns selber lieben, so wie wir sind, einfühlsam und anteilnehmend bleiben. Dabei hilft die Frage: Wer bin ich wirklich? Was sind eigentlich meine Prioritäten? Was ist für mich das Wichtigste? Wir müssen unser ureigenstes Lebensgefühl nicht verändern. Die Situation, in der wir uns befinden, ist nur äußerlich einschränkend. Wir müssen das zwar annehmen und die Regeln beachten, aber bestimmen müssen sie unser Bewusstsein nicht. Wir dürfen und müssen wir selber bleiben.
Dann gelingt uns auch der dritte Schritt, der darin besteht, dass wir uns Jesus Christus anvertrauen. Er ist unser guter Hirte, und er hat einen viel besseren Rat, als irgendein Mensch ihn uns je geben könnte. Denn er kennt unsere Seele, er führt uns den Weg zum Leben, zu dem Seele und Geist genauso gehören wie der Leib. Er wacht darüber, und er beschützt uns auch. Er ist ein sicherer Hort, eine Zuflucht, zu der wir immer fliehen können.
Es ist deshalb gut, wenn wir auf Christus schauen wie auf einen Wegweiser und abwarten, bis sein Bild eine Wirkung entfaltet. Wir begeben uns dadurch in sein Kraftfeld. Es geht Heil von ihm aus, die Schwankungen unserer Seele kommen zur Ruhe, Ängste und Unsicherheiten verschwinden, Stress und Aggressivität nehmen ab, Traurigkeit und Einsamkeit lösen sich auf. Wir werden fest und zuversichtlich.
Denn Jesus Christus ist nicht nur eine Phantasie, er lebt und regiert wirklich, und diese Realität ist größer als das irdische Leben, sie öffnet eine ganz neue Dimension. Es ist die lebendige Gegenwart Gottes, auf die sowieso alles hinausläuft. Wir müssen nur daran glauben und uns danach ausrichten. Dann wird unser verkürztes Denken gesprengt, die Seele kann frei atmen und der Leib wird gesund.
Und selbst wenn wir sterben, ist das kein Drama, das es zu vermeiden gilt. Es ist vielmehr gut, denn der Tod trägt uns endgültig und ganz hinüber in die Gegenwart unseres „guten Hirten“. Wir sind dann für immer in den Armen des „Hüters unserer Seelen“ geborgen. Die Verheißungen Gottes werden wahr und können durch nichts mehr ausgelöscht werden.
Amen.